Reflexion.

Texte, Gedanken und Erkenntnisse.

Was Europäer über die Roma-Kultur wissen sollten. 

von Manfred Brandt

 

Die Kultur der Roma ist eine Familienkultur, die es ihnen ermöglicht hat, über Jahrtausende Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung zu überleben. Welche Regeln hat die Roma-Familienkultur, die Tanz, Theater, und Musik ebenso hervorbringt, wie Ablehnung, Leid und Armut? Nicht nur in Deutschland befinden sich die Familienstrukturen im Umbruch. Die alte Familie ist nostalgisch, schön und abschreckend zugleich. Die individuell erlebte Familienkultur ist prägend für jeden Menschen und hat dementsprechend auch eine ausschlaggebende Bedeutung für das Zusammenleben verschiedener Ethnien. Kulturelle Bereicherung und hohe Anpassungsleistung stehen sich gegenüber. Roma und Deutsche (Gatschow) haben dabei eine kulturelle Entsprechung wie Feuer und Wasser. Aber es lässt sich etwas tun, um Achtung und gegenseitigen Respekt zu erreichen. Unser Verein Tele-Romanes e.V. hat seit 2008 einen Modellversuch zur Berufsausbildung in Köln durchgeführt, um jugendliche Roma für den Beruf als Videojournalist zu qualifizieren. Durch die soziale Betreuung der Teilnehmer haben wir auch deren Familien kennengelernt und vielfältige Eindrücke gesammelt über die Denkweise und das handlungsleitende Interesse der Menschen. Dennoch kennen wir die vielfältigen Facetten des Roma-Lebens nur in Auszügen. Faszination, Unverständnis und Ablehnung kennzeichnet die Schwankungsbreite. Nach fünf Jahren intensiver Beschäftigung und Zusammenarbeit mit Roma hat sich uns die Roma-Familienkultur doch nur zum Teil erschlossen. Kernpunkt ist der absolute Familienzusammenhalt unter strengster Einhaltung familienspezifischer Regeln. Die Stringenz der Einhaltung von Familienregeln ist vergleichbar mit dem Kodex in Fürsten- und Königshäusern. Für jeden Roma ist seine Familie heilig. Er wird alles tun, damit es seiner Familie mehrheitlich gut geht. Die Familie ist  der Lebensmittelpunkt gefolgt vom Kreis der Abstammungsfamilien. Hier werden die Regeln bestimmt, die die Familienkultur ausmachen. Die Regeln können in den Familien unterschiedlich sein, aber der Grundsatz ist gleich. Ohne einen funktionierenden Familienzusammenhalt hätten die Roma nicht überlebt und ohne ihre Familie können sie nicht überleben. Gemäß diesem Grundsatz werden die Kinder erzogen. Dazu einige Beispiele, die aufzeigen, wie schwierig es ist, hinter den Regeln die Denkweise der Roma zu verstehen:

Eine Heirat ohne Zustimmung der Familie ist nicht möglich. Kinder, die selbstbestimmt handeln, schließen sich aus der Familie aus. Sie können aber immer wieder in den Schoß ihrer Familie zurückkehren. Erfahrungsgemäß finden alle Abtrünnigen den Weg zurück und bestätigen damit den vorgenannten Grundsatz. Jeder Roma hat eine Familie, braucht eine Familie und wird von der Familie versorgt. Besonders auch für alte Menschen gibt das wirkliche Sicherheit. Regeln, die eingehalten werden, schaffen Zusammenhalt und Zusammenhalt sichert das Überleben. Auch für diesen Grundsatz einige Beispiele zum Verständnis: 

Reinheit oder besser Unreinheit zu vermeiden ist eine der wichtigsten Verhaltensregeln. Dabei ist Reinheit eine Definition, die in verschiedenen Familien unterschiedlich festgelegt ist. Unrein ist z.B. alles was mit Blut und Erde zu tun hat. Berufe, für die das zutrifft, dürfen nicht ausgeübt werden. Arzt, Bauer, Gärtner, Florist, Fleischer usw. sind damit keine Ausbildungsberufe für Jugendliche Roma. Unrein können auch andere Menschen sein, wie z.B. Roma und Sinti, die zu Besuch kommen und deren benutztes Geschirr anschließend entsorgt werden muss. Ausbildung und besonders Berufsausbildung sind ein zweischneidiges Schwert. Alles was lebenswichtig für das Zusammenleben ist, wie Liebe, Rücksichtnahme, Unterordnung und persönliche Freiheit, lehrt die Familie. Für Verpflichtungen, die von außen kommen, wie die Schulpflicht besteht nur ein eingeschränktes Verständnis. Die Kinder gehen zur Schule, wenn dem keine familiäreren Verpflichtungen entgegenstehen. Wenn jemand in der Familie versorgt werden muss, weil er krank ist, hat das selbstverständlich Vorrang vor der Schulpflicht. Durch die hohen Fehlzeiten von Kindern in der Schule, ergeben sich schlechte Noten mit der langfristigen Folge, dass Roma-Kinder als weniger intelligent gelten und auf Förderschulen überwiesen werden. Grundsätzlich hat Schulbildung keinen hohen Stellenwert. Singen, Tanzen oder Musizieren dagegen sehr, denn es schafft Lebensfreude und fördert den Familienzusammenhalt. Lesen und Schreiben können brachte für Roma in der Nazi- Verfolgungszeit angeblich lebensgefährliche Nachteile, denn durch die schriftlichen Aufzeichnungen konnten bisher unbekannte Roma identifiziert werden. Eine Berufsausbildung setzt einen entsprechenden Schulabschluss voraus und ist zudem in der Auswahl begrenzt. Eine Berufsausbildung zum Videojournalist, wie wir sie im Modellversuch angeboten haben, erscheint reizvoll. Dieser Beruf setzt, ebenso wie Schauspieler, Musiker und andere künstlerischen Berufe, keinen zwingenden Schulabschluss voraus. Wesentlich ist die Begabung und die Tatsache, später flexibel und selbständig zu arbeiten. Die Familien waren einverstanden, weil das Medium Film attraktiv ist und die Jugendlichen mit Interesse und Freude etwas Neues lernen konnten. Bereits in der ersten Ausbildungsphase entstanden mehrere Videofilme, die von den Jugendlichen unter Anleitung selbst geplant, gedreht, geschnitten, vertont und von dem Regionalsender Berg TV gesendet wurden. Aber jede Berufsausbildung birgt das Problem in sich, was geschieht anschließend? Mit einem Berufsabschluss könnten Jugendliche selbständig werden. Wenn sie in einer Firma arbeiten wollen, müssen sie sich den Firmenbedingungen anpassen und auch wenn sie freiberuflich arbeiten, sind sie selbständiger im Handel und Denken. In jedem erfolgreichen Fall stehen sie für die Anforderungen in der Familie nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung. Wahrscheinlich liegt ein Schulabschluss und ein Berufsabschluss nicht im Interesse der älteren Entscheidungsträger in den Familien. Tatsache ist, dass z.B. von fünfzehn ausgebildeten Mediatoren für die Schulen der Stadt Köln, niemand der Erwachsenen Roma die Tätigkeit ausübt. Im Verein TELE-Romanes haben hoch motivierte und engagierte Jugendliche punktgenau vor der Prüfung die Ausbildung als Videojournalist abgebrochen. Sie haben die notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung eines Berufs gelernt und Berufskenntnisse erworben. Wahrscheinlich ist das aus Sicht der Familien- Entscheider ausreichend, denn ein Abschluss der Berufsausbildung würde den Zusammenhalt der Familie nicht befördern, im Gegenteil. Auch wenn die Roma-Kultur für die Mehrheit der Menschen in Deutschland und Europa nicht erkennbar ist, weil sie die Familienkultur der Roma als unordentlich, verdreckt, bettelnd und kleptomanisch erleben, ist es wichtig, das handlungsleitende Interesse von 12 Millionen Roma in Europa aus ihrer dreitausendjährigen Leidens-Geschichte heraus zu verstehen. Roma wurden als Ethnie schon immer diskriminiert und verfolgt. Sie sind in Großfamilien und Sippen zersplittert über Land gezogen und haben sich nie zu einer größeren Einheit -Volk und Land- gefunden. Jede Sippe hat ihre eigenen spezifisch en Regeln und Gebräuche entwickelt. Zum Überleben haben sie eine schwer verständliche, individuelle Kultur entwickelt, die aber als Ethnie über mehrere tausend Jahre erfolgreich war. In der Literatur ist die Leidensgeschichte der Roma ausführlich und umfassend aufgearbeitet, aber die Roma Kultur als Familienkultur ist unzureichend beschrieben. 

Roma gewähren ungern Einblicke in ihre Familienkultur. Sie grenzen sich ab, weil sie wissen, dass sie nicht auf Verständnis stoßen. Wie in zahlreichen offiziellen EU-Berichten dargelegt, stehen in der EU mehrere Milliarden Euro zur Förderung von Roma bereit. Die Gelder werden nicht abgerufen und alle bisherigen Projekte wurden von der EU-Kommission als unwirksam beurteilt. Auch der Modellversuch von TELE-Romanes zur Berufsausbildung war viel grösser und länderübergreifend angelegt. Fachleute aus der deutschen Berufsausbildung wollten im Verein mit Roma zusammen Jugendliche zu Videojournalisten ausbilden, um die Voraussetzungen zur Kommunikation zu schaffen und die Isolation aufzubrechen. Dieses Ziel besteht unverändert weiter. Über den Verlauf des Modellversuchs kann der vorliegende Abschlussbericht eingesehen werden. Unsere Erfahrungen zeigen, dass unzureichende Kenntnisse der Romakultur die Ursache sind für wenig erfolgreiche Hilfsprojekte. Eine Armutsbekämpfung kann nur gelingen, wenn die kulturellen Gegebenheiten bekannt sind und von den Initiatoren berücksichtigt werden. Die Kultur der Roma und die Kultur der Deutschen (Gatschow) ist so extrem unterschiedlich, dass ein Aufeinanderprallen beider Kulturen zu schweren Verwerfungen führt, wie es beispielsweise in Dortmund, Duisburg, Berlin usw. zu erleben ist. Die Jahrzehnte langen Erfahrungen aus der Entwicklungshilfe und der "Gastarbeiter-Integration" zeigen eher die Fehler auf, die zwangsläufig gemacht werden, wenn die kulturellen Gegebenheiten keine entsprechende Berücksichtigung finden. 

 

Wir vom Verein Tele-Romanes e.V. sind gerne bereit, bei der Ausarbeitung von Vorsorge- und Eingliederungsmaßnahmen für Roma, unsere Erfahrungen einzubringen. Allein durch die Gerichtsurteile in Hessen, Bayern und NRW zur Sozialhilfe ergibt sich eine neue Eigenständigkeit für Roma. Die Mehrzahl der Roma lebt z.Zt. in zugewiesenen Roma Siedlungen und Wohnheimen. Ihre Situation ist gekennzeichnet durch die Versorgung mit Sachleistungen wie Wohnraum mit Heizung, Strom und Bewachung. Sie dürfen das Stadtgebiet nicht verlassen, haben keine Arbeitserlaubnis und kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, sondern müssen ihren Bleibestatus in zeitlichen Abständen immer wieder erneuern. Viele Roma leben so seit Jahrzehnten hier. Dieser Status ändert sich mit den neuen Entscheidungen der Landessozialgerichte. Wer Sozialhilfe beantragt, erhält z.B. nicht mehr die Versorgung in den kommunalen Roma Siedlungen und Wohnheimen. Die Alimentierung in Form von Sachleistungen entfällt. Eine neue Eigenständigkeit und Selbstversorgung ist gefordert. Die Notwendigkeit einer Berufstätigkeit einer Schul- und Berufsausbildung muss von den Roma und ihren Entscheidungsträgern akzeptiert und umgesetzt werden. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass Roma sehr stolz sind auf ihre tausendjährige Tradition und dass sie ihre Kultur weiter bewahren wollen. Wie das Roma Denkmal in Berlin zeigt, sind sie geschichtsbewusst und durchsetzungsfähig in ihren Interessen. Sie haben eine Würdigung und Wiedergutmachung für die Verfolgung in der NS- Zeit erreicht. Auch für die Diskriminierung und Vertreibung der letzten Jahrhunderte in Europa fordern sie eine Berücksichtigung. Wir denken, die gegenseitige Berücksichtigung der Vergangenheit und der Kultur ist der Schlüssel für ein friedliches Zusammenleben. 

 

Manfred Brandt, Vorstand Tele-Romanes e.V.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0