Klaus Edwards

im Gespräch mit Jürgen Streich

 

Klaus Edwards (KE), ehemals Leiter der Finkenberg-Schule, jetzt Leiter der städtischen Schule für emotionale und soziale Entwicklung in Köln-Porz;

Jürgen Streich (JS), freier Publizist, u.a. Mitarbeit bei dem ARD-Magazin Monitor;

Alphonse Sauer (AS), der das Gespräch in Bild und Ton aufzeichnete, ist auch Pädagoge mit Roma-Erfahrungen. Er hatte eine Professor für Klavier in Wien und betreibt nun eine Klavierschule im heimischen Rheinland.

(22. 10. 2015)

Verlinkung zu der ungekürzten Fassung des Gesprächs.

 

Jürgen Streich (JS): Tele Romanes ist ja in der Roma-Thematik engagiert, die Mitglieder sind aber, das kann ich in der Offenheit sagen, auch etwas gefrustet von den Ergebnissen. Sie sind mir als jemand mit Erfahrungen in diesem Bereich genannt worden.

 

Klaus Edwards (KE): Ich habe aus der Vergangenheit Erfahrungen mit Schüler- und Elternklientel. Bis vergangenes Jahr war ich für zwei Schulen zuständig, auch die Finkenbergschule. Und die ist eine mit einem sehr hohen Roma-Anteil. Der liegt zwischen 30 und 35 Prozent. Und der wäre mit Sicherheit noch höher, wenn ich bestimmte Einzugsgebiete zum Schutz der Schule nicht ausgeklammert hätte. Ich habe über Jahre hinweg unabhängig von der Entwicklung der Schülerzahlen – Schulleiter wollen immer ganz gerne viele Schüler haben – Köln-Poll ausgegrenzt. Poll gehört zwar zu Porz und wäre auch Einzugsgebiet für die Finkenbergschule gewesen. Aber Poll gehört jetzt schuleinzugsgebietsmäßig zu Kalk. Für die Schüler, die nun am Poller Holzweg wohnen – das ist schon eine Klientel, wo sehr viele Roma sind. Die hätten es wesentlich kürzer zur Finkenbergschule, weil die S-Bahn direkt vor der Tür hält. Wir haben es aber über Jahre hinweg vermieten, auch diese Schülerschaft noch in die Finkenbergschule hineinzuholen, denn damit wären es keine 35 Prozent mehr gewesen, sondern wir wären auf 60 gekommen. Und dann muss man sich irgendwann fragen, hat das noch etwas mit Schule zu tun, oder ist das noch die Schule, die es vorher gewesen ist? – Um es einmal so auszudrücken.

 

JS: Könnten Sie aus der Praxis berichten, wie Sie das meinen?

 

KE: Grundsätzlich hat Schule ja einen Auftrag. Und der ist Bildung und Erziehung. Den hat jede Schule und diesem Auftrag unterliegt auch eine Förderschule. Ob das nun eine Förderschule für emotionale-soziale Entwicklung oder eine Förderschule für Lernen ist, es geht immer um Erziehung und Unterricht. Aus meiner Erfahrung heraus hat aber zumindest Unterricht – bleiben wir zunächst einmal bei diesem Begriff – in der Roma-Kultur einen anderen Bedeutungszusammenhang, als das bei anderen Schüler-Klientel ist. Es steht nicht so hoch in der Werteskala, lesen und schreiben zu lernen, wie das bei anderen Kulturen der Fall ist. Damit hängt auch Schulbesuch zusammen, damit hängt auch Regelverständnis zusammen, damit hängen auch Verbindlichkeiten zusammen. Regelmäßigkeit, Verbindlichkeit, aber auch Regeln einzuhalten werden nicht so hoch in der Kultur bewertet – zumindest ist das meine Erfahrung – wie es bei anderen Kulturen der Fall ist; ebenso, um es auf deutsch zu sagen, die Auswirkungen darauf, dass man ordentlich eine Schule leiten und auch Unterricht führen kann. Sie können nur dann mit Schülern arbeiten, wenn sie da sind. Wenn Schüler nicht da sind, wird es schwierig, ihnen etwas beizubringen. Wenn Schüler sehr häufig nicht da sind, wird es noch schwieriger, ihnen etwas beizubringen. Und der Prozentsatz der Schüler, die regelmäßig nicht am Unterricht teilnehmen, ist bei Roma in der Vergangenheit deutlich höher gewesen, als das bei anderen Kulturen der Fall gewesen ist.

 

JS: Vermuten Sie oder haben Sie Informationen darüber, ob oder dass die Elterngeneration dafür mit verantwortlich ist?

 

KE: Hm, ich will das gar nicht unbedingt auf die Elterngeneration beziehen. Ich glaube schon, dass das eine kulturelle Angelegenheit ist. Darum sage ich, das ist in der Kultur bedingt und hat etwas mit einem Normen- und Werteverständnis zu tun. Das ist bei einer Kultur, wie wir Deutschen sie haben, im christlichen Abendland, eher auf Leistung, auf Bildung, auf Abschlüsse hintrainiert. Ob man das jetzt gut oder schlecht findet ist eine ganz andere Diskussion. Aber auch Schule hat sich darauf eingerichtet – auf Klassenarbeiten schreiben, auf Noten vergeben, auf Abschlüsse hinzuarbeiten. Wenn der Schulabschluss in einer Kultur eigentlich keine Rolle spielt, wenn die Berufsausbildung in einer Kultur eine untergeordnete Rolle spielt, dann stellt sich für Eltern und die Kinder dieser Eltern die große Frage: Warum soll ich etwas erreichen, wenn die Berufsausbildung nicht wirklich das oberste Ziel ist, um das es mir eigentlich geht. Und dann wird es eben schwierig, Inhalte zu vermitteln.

 

JS: Würden Sie sagen, dass das auch die Integration erschwert oder verhindert?

 

KE: Integration ist ein großer Begriff. Inzwischen reden wir ja davon, dass wir von Integration nicht mehr reden wollen, sondern wir wollen jetzt von Inklusion reden. Zwischen Integration und Inklusion liegt ein großer Unterschied. Die Integration, um es mal deutlich zu sagen, ist einfach gescheitert. Sie ist eigentlich auch der falsche Begriff, weil ich versuche, bei der Integration den Einzelnen einer Gesellschaft anzupassen, was definitiv so nicht funktioniert, sondern muss Gesellschaft sich letztendlich auch auf Einzelne einstellen. Das ist eher der Begriff der Inklusion. Integration und Inklusion finden aber nicht nur in der Schule statt, sondern sie finden natürlich im gesellschaftlichen Leben statt. Und im gesellschaftlichen Leben muss es, damit Menschen miteinander leben können, meines Erachtens nach klare Vereinbarungen geben. Man muss wissen, wenn einer etwas sagt, was er damit meint. Ich verdeutliche es an einem Beispiel: Sind Sie in Italien und werden eingeladen, „komm´ doch mal vorbei“, dann ist das eine nette Floskel. Kommen Sie wirklich vorbei, sind die extrem überrascht. Benutzen Sie in Deutschland diese Formulierung, „komm` doch mal vorbei“, ist die Überraschung nicht halb so groß wie in Italien. Das, was ich mit „komm´ doch mal vorbei“ meine, wird in zwei verschiedenen Ländern und Kulturen sehr unterschiedlich aufgenommen. Ähnlich ist das auch in Deutschland, wenn wir von unterschiedlichen Kulturen sprechen und eben auch bei Roma. Das heißt, wenn wir von den gleichen Dingen sprechen wie eine Form von Pünktlichkeit einzuhalten... – wenn ich vom Beruf rede: der Maurer muss nun mal morgens um acht da sein, sonst wird das nicht funktionieren, oder der Bäcker fängt um vier Uhr morgens an und wenn die Bäcker-Lehrlinge nicht da sind, wird es definitiv keine Brötchen geben. Wenn ich also von vier Uhr spreche, dann meine ich nicht fünf, dann meine ich nicht sechs. Wenn ich aber als Kultur den Begriff Zeit deutlich anders definiere, als die andere Kultur es vorschreibt, gibt es Probleme, auch in der Integration und Inklusion. Das heißt, wir reden zwar von den gleichen Dingen, meinen aber sehr unterschiedliche. Ich komme immer wieder zum Werte- und Normensystem, denn ich habe auch andere Werte, ich setze auch andere Normen und vor allem auch eine andere Wertigkeit von bestimmten Dingen. In der deutschen Kultur wird ja, glaube ich – ob es wirklich so ist? – die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit – als typisch deutsch, das wir und das Ausland immer noch mit den typisch deutschen Tugenden verbinden, betrachtet. Die Romakultur hat aber eine andere Vorstellung von Zeit und eine andere Vorstellung von Pünktlichkeit. Der Jugendliche kommt nicht um acht zur Schule, sondern am Vormittag. Das ist für den Deutschen auch acht Uhr, für den Roma muss das aber nicht acht, das kann auch neun sein. Und er versteht überhaupt nicht – nicht zwangsläufig und nicht unbedingt -, warum wir – Lehrer, Deutsche, oder die andere Kultur – ein so wahnsinnig großes Fass aufmachen, weil er nicht um acht dagewesen ist, denn er ist ja da. Das zählt, dass er da ist. Dass der Unterricht bereits begonnen hat, spielt dann ja auch eine ganz andere Rolle, weil es ja viel wichtiger ist, dass der Schüler da ist. Der Unterricht ist dann zweitrangig. (ab hier gekürzt)

 

 

(Das ungekürzte Gespräch finden Sie hier)

 

 

JS: Kompromisse sind von beiden oder mehreren Seiten nötig. Wir haben ja über faktisch vorhandene Segregation und Segregationsbestrebungen gesprochen. Wenn man es aber schafft, Jugendlichen Interesse an Tätigkeiten zu vermitteln, in denen sie später als Schüler oder Studenten auch gut sind – glauben sie erstens, dass das zu schaffen ist und zweitens, dass das dann in der romnischen Kultur auch eine gewisse Anerkennung finden könnte?

 

KE: Ja, ich glaube, dass das möglich ist. Ich würde aber noch einen Schritt weitergehen bzw. einen Fuß noch davorsetzen. Ich glaube, es ist nicht unbedingt nötig, dass einzelne Jugendliche oder eine ganze Gruppe sozusagen von ihren eigenen Normen und Werten abrücken muss. Es würde schon als ersten Schritt reichen, wenn sie die anderen nur anerkennen. Das heißt, der Jugendliche als einzelner betrachtet kennt zwei verschiedene Normsysteme. Er weiß darum. Wenn der Jugendliche nun weiß, um bestimmte Dinge zu erreichen, läuft das nur über diesen einen Weg, über dieses eine Normensystem, dann muss er nicht zwangsläufig sein eigenes über Bord werfen, aber er weiß zumindest, dass er, um mein Ziel zu erreichen, sich dem unterzuordnen hat. Konkret: Wenn ich jeden Tag mein Brötchen auf dem Tisch haben will und ich einen Beruf haben will, um mein Geld zu verdienen, dann muss ich nun mal morgens um acht Uhr – ob mir die Zeit jetzt wichtig ist..., ich kann ja am Wochenende weiter meiner romnischen Zeitvorstellung frönen -  aber, wenn ich den Job haben will, muss ich wissen, dass das nun mal die Grundordnung ist, unter der ich mich in dieser Situation unterzuordnen habe. Also das geht schon. Ich glaube, es wird eine Angleichung geben. Das wird dazu führen, dass auch das Norm- und Wertesystem, ob es aufgeschrieben ist oder nicht, sich zwangsläufig verändern wird, genauso wie unseres. Das hat es doch schon. Nur um bei dem Begriff Zeit zu bleiben: Haben wir vor zwanzig Jahren von gleitender Arbeitszeit gesprochen? Kennen Sie den Begriff von vor zwanzig Jahren? Gleitende Arbeitszeit? – Die gab es nicht. Hat sich bei uns also nicht auch im Rahmen von Zeit etwas verändert?

 

AS: Was mir im Zusammenhang mit Roma auffällt: Wo es ihr eigenes Interesse ist, da können sie´s. Beispielsweise Führerschein, Straßenverkehr. Da sind ja Regeln, die sind ganz strikt. Und jeder will ein Auto haben, jeder will sich bewegen. Gerade die, die nomadische Traditionen haben, die müssen sich ja mit einem Fahrzeug bewegen und sie kommen nicht weit, wenn sie keinen Führerschein haben. Sie haben aber alle einen.

 

KE: So ist es.

 

JS: Interpretiere ich Sie richtig, dass Sie der Ansicht sind, dass unterschiedliche Wertvorstellungen, die aus der Kultur hergeleitet sind, durch Zusammenleben annäherbar, angleichbar oder gar zusammenzuführen sind, sodass es da Schnittmengen geben wird?

 

KE: Ja. Und das letztendlich über die Zielsetzung. Das heißt, wenn ich etwas erreichen will und dieses, was ich erreichen will, höher einzuschätzen ist, als das andere, bin ich bereit, diesen Weg zu gehen, um mein Ziel zu erreichen. Ist es das nicht, muss ich einfach nur eingestehen, dass ich die Zielsetzung für den Roma nicht erreicht habe. Ich habe ihm das Ziel nicht vermitteln können. Für den Roma ist das Ziel nicht hoch genug, morgens um acht Uhr in die Schule zu kommen und dort zu sitzen. Wäre das Ziel hoch genug für ihn, um dieses und jenes zu erreichen, dann wäre er auch um acht Uhr da.

 

AS: Die Roma-Kinder bekommen ja auch Kindergeld. Man könnte es doch so aufteilen, dass man sagt, ‚Wenn Du pünktlich kommst, dann bekommst Du Kindergeld’, ansonsten wird es anteilsmäßig pro Tag um ein Dreißigstel im Monat gekürzt.

 

JS: Aber das erfordert Gesetzesänderungen.

 

KE: Eben, das erfordert Gesetzesänderungen. – Aber nochmal: Es findet ja statt. Aktuell sind wir an dem Punkt, dass wir keine Geldmittel mehr für Flüchtlinge einsetzen, sondern Sachmittel. Gesetzesveränderungen finden statt, und sie werden auch in Bereichen stattfinden, die Roma betreffen. Es gab auch schon Diskussionen, ob die Sozialhilfe von Roma, aber auch anderen, auch Deutschen, danach festgelegt wird, wie häufig der Schulbesuch stattfindet, also die Motivation der Eltern zu erhöhen, a das Geld zu bekommen, aber dafür auch etwas zu tun, nämlich die Kinder in die Schule zu tragen.

 

JS: Das ist auch meine Schlussfrage an Sie: Glauben Sie, dass man über das Erreichen der Jugendlichen auf dem Wege über die Schule oder mit Dingen, die beispielsweise Tele Romanes macht, die Schwelle, die in der Elterngeneration offenkundig noch vorhanden ist, in Einzelfällen oder auch zunehmend überwinden kann?

 

KE: Ja, das glaube ich, und zwar eindeutig. Ich glaube es eindeutig. Es ist schwer. Wir reden hier über Roma, sie sind unser Thema. Aber ich will es auf eine breitere Basis stellen, um zu verdeutlichen, es betrifft auch andere Kulturen genauso stark. Wie viele deutsche Jugendliche beispielsweise kommen unregelmäßig oder gar nicht zur Schule. Wie viele schicken ihre Kinder definitiv nicht zur Schule oder kriegen dieses oder jenes definitiv nicht gebacken.

 

Um zurück zu den Roma zu kommen: Ich glaube, dass es geht, es ist nur ein langer Weg. Auch die Roma müssen, wenn sie denn in diese Gesellschaft integriert werden wollen – das ist ja noch die große Frage -, sich überlegen, ‚Was bin ich denn bereit, dafür zu tun?’ Die Zielsetzung ist das A und O. Wenn ich eine große Gruppe in Deutschland, ganz besonders in Köln, sozusagen keine Anreize biete – und im Augenblick sehe ich das so, ich sehe keine Anreize, die wir als Gesellschaft an die Roma geben, weder positive noch andere Anreize, um sich oder etwas zu verändern -, heißt das auf deutsch: Wenn Familien sich weiterhin in keinster Weise bewegen müssen etwas zu tun, von morgens bis abends im Bett bleiben dürfen und die Brötchen auch noch selbstverständlich an den Frühstückstisch gebracht werden, dann muss ich mich nicht wundern, wenn die Betreffenden morgen immer noch im Bett liegen. Warum sollten sie denn etwas verändern, denn so wie es ist, ist alles gut.: Ich kann das tun, was ich will, nämlich meiner Kultur frönen, dafür nichts tun, was mir weh tut, und ich habe satt und genug zu essen, es wird mir alles geliefert. Wenn ich also keinen Anreiz habe, irgend etwas verändern zu müssen, werde ich keinen Beweggrund sehen, etwas zu verändern.

Ich glaube, dass wir nachsteuern müssen, im Sinne von Beiden. Und manchmal gehört auch leider dazu, ‚bist Du nicht willig, so brauch ´ ich Gewalt’ – will heißen: Wenn ich eine große Gruppe habe, die hier lebt, aber sich nicht integrieren will, muss ich auch Mittel und Wege finden, ihr das schmackhaft zu machen. Das ist positiv ausgedrückt. Ich könnte es auch anders ausdrücken und sagen, dann müsste ich es ihr so schwer machen, dass sie es dann letztlich doch will.

 

Ich glaube immer noch an eine Gesellschaft, die sich zusammenrauft. Und dazu gehört es für alle Beteiligten, Kompromisse einzugehen. Das bedeutet Veränderungen bei allen. Es kann nicht sein, dass nur eine Gruppe sich verändert, und alle anderen sagen, ‚Ihr könnt machen, was Ihr wollt, ich mache einfach nichts.’ Das funktioniert glaube ich nicht in einer Gesellschaft. In keiner Gesellschaft übrigens. Da können wir so demokratisch sein wie wir wollen. Das funktioniert nirgendwo, wo Menschen zusammenleben.